Reisetipp: Kathedralen der Arbeit

Mit dem Fahrrad die Geschichte der Industriekultur in Berlin-Tempelhof entdecken

Von Claudia Simone Hoff

Mitten in der Stadt, quasi als Kathedralen der Arbeit, entstehen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedeutende Denkmäler der Industriearchitektur. Überregionale Bedeutung erlangen beispielsweise die Gebäude, die Peter Behrens für die „Allgemeine Elektricitätsgesellschaft“ (AEG) unter Walter Rathenau erbaut. Die Industriekomplexe der Gründerzeit und frühen Moderne prägen bis heute einige Stadtviertel Berlins, darunter auch das Gebiet um die Alboinstraße in Tempelhof und das Gelände rund um den Tempelhofer Hafen. Einige dieser bedeutenden Industriebauten des Bezirks werden auf den nächsten Seiten im Rahmen einer kleinen Fahrradtour auf den Spuren der Tempelhofer Industriegeschichte vorgestellt. Die Tour lässt sich beliebig ausdehnen – an allen Ecken gibt es Interessantes, unbekanntes und Kurioses entdecken – abseits der üblichen Pfade.

Wir starten unsere Tour in der Oberlandstraße in der Nähe des Teltowkanals. Der S- und U-Bahnhof Hermannstraße kann als Ausgangspunkt dienen. Das hier zuerst vorgestellte Fabrikgebäude aus den späten 30er Jahren markiert den Endpunkt der baulichen Entwicklung rund um den 1906 erbauten und als Wasserweg bedeutenden Teltowkanal. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die moderne Bauweise aus den 20er Jahren (kubische Volumina, Fensterbänder, Glasflächen) nur noch im Industriebau möglich. Wir befinden uns in der Oberlandstraße 75 – 84: Das u-förmige, 1936 bis 1937 von Paul Renner entworfene Gebäude beherbergte die Rasierklingenfabrik Roth-Büchner. Seit 1945 gehört sie zur Firma Gillette Deutschland. Heute werden dort Rasierklingen, Rasierapparate, Kosmetikserien u. a. hergestellt.

Bei dem Bau handelt es sich um eine dreiflügelige Anlage, deren Eingangsteil mit wuchtigen Pfeilern und dem Gillette-Logo über dem Portikus mit Empfangshalle, ganz im Sinn einer nationalsozialistischen Symbolik, wuchtig hervorsteht. Rechts und links neben diesem Portal erstrecken sich die Fabrikhallen. Der Stahlskelettbau ist mit roten Klinkern verkleidet und weist horizontal verlaufende Fensterbänder auf. In dem erhöhten Mittelrisalit befindet sich das Haupttreppenhaus. Die Dächer sind als Sheds gestaltet, ein durchaus übliches Verfahren bei Industriebauten, bei denen die Beleuchtung von schräg oben in das Gebäude geleitet wird. Es handelt sich um ein Konstruktionssystem einer Kombination von Punltdächern, wobei die Stütz- und Rückwände Lichtflächen bilden. Die ersten Sheds wurden 1844 im englischen Leeds für Spinnereien gebaut und kamen 1857 zum ersten Mal in Berlin zur Anwendung (Firma Hoffbauer am Engelufer). Das Werksgelände breitet sich auf 62.000 m2 aus. Dazu gehörten neben den Fabrikationshallen auch ausgedehnte Sozial-, Freizeit- und Grünanlagen.

Über die Komturstraße erreichen wir die Teilestraße 13 – 16, wo wir die Sarotti-Fabrik näher betrachten wollen. Die Straße, in der die Sarotti-Fabrik seit 1913 steht, erhielt ihren Namen um 1909 und wurde zum Gedenken an die Familie Teile, die als eine der wenigen den 30-jähigen Krieg in Tempelhof überlebt hatte, so benannt. Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie spielte im Berliner Wirtschaftsleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle, bedingt durch das starke Anwachsen der Bevölkerung.

Der Gründer von Sarotti, Hugo Hoffmann, war in Paris zum Konditor ausgebildet worden und kam 1868 nach Berlin, wo er im Bezirk Mitte in der Mohrenstraße eine „Conditor-Küche“ einrichtete. Nach drei Jahren stellte er erstmals Schokolade und Pralinen her. Im Jahr 1893, er stellte das erste Mal Marzipan her, ließ er das Warenzeichen „Sarotti“ und zehn Jahre später wurde die „Sarotti Chokoladen- und Cacao-Industrie AG“ gegründet. Hoffmann beschäftigte über 1000 Mitarbeiter. Die Herkunft des Namens Sarotti-Mohr ist ungeklärt, vielleicht leitet sich das Maskottchen vom Namen der Straße ab, in der sich das erste Geschäft Hoffmanns befand (Mohrenstraße). Jedenfalls ist das bekannte Logo bis heute in Verwendung. Die 1921 in „Saotti AG“ umbenannte Firma wurde 1971 von der Nestlé AG aufgekauft, während der Firmensitz schon nach dem Zweiten Weltkrieg nach West-Deutschland verlegt wurde.

1913 zog die Fabrik auf dieses großes Gelände in Tempelhof. Der Architekt Bruno Buch, von dem noch weitere Industriebauten in Berlin stammen, erweiterte nach einem Brand 1922 den ursprünglichen, 1912 entstandenen Bau Hermann Dernburgs. Der fünfstöckige Flachbau ist als Stahlbetonkonstruktion errichtet und mit Muschelkalkplatten verkleidet. Vor dem Jahr 1904, als die Verwendung von Stahlbeton im Außenbau als zulässig erklärt wurde, baute man die Fabriken meist aus Backstein. Dieses Fabrikgebäude ist der erste monumentale Geschossbau aus Stahlbeton in Berlin. Das rechtwinkelig gestaltete Gebäude mit zahlreichen großen Sprossenfenstern strahlt eine sachlich-konstruktive Wirkung aus.

Fährt man die Teilestraße nun in Richtung Westen, geht sie in die Ordensmeisterstraße über. In der Gegend um den Tempelhofer Hafen siedelten sich nach dem Bau des Teltowkanals zahlreiche große Firmen aus verschiedenen Branchen an. Die gute Verkehrsanbindung durch den Teltowkanal sowie die Berlin-Mittenwalder-Eisenbahn war sicher ein Grund für die dichte Besiedlung durch Industriebetriebe. Angekommen am 4,5 ha großen Tempelhofer Hafen, erwarten uns drei interessante, unter Denkmalschutz stehende Bauten: Das 1906 errichtete Lagerhaus der Teltowkanal AG, das SEL-Hauptgebäude (ehemals C. Lorenz AG) im Lorenzweg 5 und das Ullstein-Druckhaus. Letztgenannter repräsentativer Stahlskelettbau mit expressionistischen Klinkermauerwerk gehört zu den bahnbrechenden Leistungen im Industriebau. Es beherbergte das zu seiner Zeit größte Verlags- und Druckgebäude Europas. 18 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften wurden dort hergestellt, darunter die „Berliner Illustrierte“ und die „Vossische Zeitung“.

Die C. Lorenz AG unterhielt seit 1918 an diesem Standort Werkstätten für Telegrafen und Telefone. Zu wirtschaftlichen Hochzeiten waren im fünfgeschossigen Stahlbeton-Fabrikgebäude bis zu 2.400 Menschen tätig. Das Gebäude hat den Zweiten Weltkrieg fast unbeschädigt überstanden. Das 1904 errichtete Lagerhaus der Teltowkanal AG diente als Speicher und war mit seiner feuerfesten Eisenbetonkonstruktion im Innern äußerst modern. Die Lagerfläche des viergeschossigen Baus betrug 21.000 m². Noch bis zur Wende diente der Speicher als Vorratslager des Senats für den Fall erneuter politischer Krisen um est-Berlin. Die UFA-Fabrik gleich neben dem Tempelhofer Hafen in der Oberlandstraße 26 – 35 hat in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin das Konzept eines Kultur- und Dienstleistungszentrums für dieses stadtbildprägende, zurzeit noch brachliegende und heruntergekommene Gelände erarbeitet.

Wir überqueren nach der Besichtigung den Tempelhofer Damm Richtung Westen und fahren die Friedrich-Karl-Straße entlang und biegen dann rechts in die Manteuffelstraße ein. Nach drei Querstraßen kommt auf der linken Seite die Kaiserin-Augusta-Straße, in die wir einbiegen. Am Alboinplatz geht es dann rechts in die Alboinstraße. In der Hausnummer 26 – 42 liegt die von 1928 bis 1930 vom Architekten Carl Mackensen errichtete Parfümeriefabrik Schwarzkopf. Die Unternehmensgeschichte von Schwarzkopf beginnt mit einer Drogen- und Parfümeriehandlung in Berlin-Charlottenburg. Der Firmenbegründer experimentierte mit Haarpflegemitteln und war dabei so erfolgreich, dass eine Fabrik errichtet werden musste. Zu Produktionszeiten wurden in der Fabrik verschiedene Produkte hergestellt: Schaumponpulver (heute Shampoo), Trockenshampoo, Haarglanzpulver etc.

Der vertikal gegliederte Bau besteht aus einem Stahlskelett , versteckt hinter einer expressionistischen Backsteinfassade. Errichtet wurde ein dreiflügeliger, mit reichem Ziegeldekor versehener Industriebau, unterteilt in eine fünfstöckige Fabrikationshalle mit je zweigeschossigen Verwaltungstrakt und Wohngebäude. Die Nutzfläche beträgt insgesamt 10.000 m2. Der oberste Teil des Turms, der den Fabrikteil durchschneidet, wird vom bekannten Firmenlogo in Form eines Kopfes im schwarzen Schattenriss bekrönt. Dieser gläserne Teil des Turmes wurde allerdings erst 1936 aufgesetzt und nutzte die neuen Möglichkeiten der Lichtreklame. Später hinzugekommen ist auch das Walmdach des Büroflügels, das der Ausgewogenheit der Gesamtproportionen entgegenläuft. Die Aufteilung der Geschosse des Fabrikationsgebäudes sah folgendermaßen aus:

Kellergeschoss: Wasch- und Umkleideräume, Heiz- und Elektrizitätsanlage
Erdgeschoss: Hausdruckerei, Expedition (Versand)
1. Obergeschoss: Kartonagen-Abteilung, Reklame-Abteilung, chemisches Laboratorium
2. Obergeschoss: Abfüllung der flüssigen Seife, Verpackung der fertigen Produkte
3. Obergeschoss: Herstellung, Reservebottiche, Betriebswerkstätten (Schlosserei, Tischlerei, Elektrowerkstatt)
4. Obergeschoss: Großküche, Kantinen (Kasinos genannt) für Arbeiter und Angestellte

Der technische Standard der Fabrik war zur Zeit der Erbauung sehr hoch. Es gab moderne technische Anlagen wie Fließbandanlagen, Dosierwaagen, Entlüftungsanlagen, eine Telefonzentrale mit acht Amtsleitungen u. ä. Insgesamt waren in der Fabrik 100 Angestellte und bis zu 400 Arbeiter tätig. 1932 heißt es in einem Artikel über die Fabrik: „... So ergibt sich das höchst erfreuliche Gesamtbild einer schlichten und doch ästhetisch schönen, hygienisch und technisch vorbildlichen Stätte planmäßiger sorgfältiger Arbeit, die nach modernsten Grundsätzen durchgeführt wird.“

Parallel zur Alboinstraße verläuft in westlicher Richtung die Bessemerstraße, wo in der Nr. 2 – 14 die Schultheiss-Mälzerei liegt. Schon von weiten ist sie an ihren großen Dunstschloten mit Windfangblechen im Stadtbild zu erkennen. In den Jahren 1914 bis 1917 wurde sie vom Architekten Schlüter in Backsteinbauweise mit einem Verwaltungsbau, Produktionshallen und Silogebäude versehen. Am Ende der Bessemerstraße Richtung Norden biegt man rechts in die Eresburgstraße ein und trifft an den Hausnummern 22 – 23 auf das Gebäude der Isophon-Werke, ehemals Ludwig Spitz & Co. GmbH. Dort wurden v. a. Lautsprecher gefertigt. Die Hausnummern 24 – 27 werden von der Brotfabrik Schlüterbrot-Bärenbrot besetzt, 1927 bis 1928 vom Erbauer der Sarotti-Fabrik Bruno Buch errichtet und mit rotvioletten Ullersdorfern Klinkern versehen. Gleich in der Nähe (Richtung Nordosten) liegt in der Ringbahnstraße 130 das 1925 – 1928 von Karl Pfuhl erbaute ehemalige Reichspostzentralamt. Die mit Klinkern verkleidete Fassade ist im Stil des Expressionismus gehalten und zeigt Ähnlichkeiten mit der Parfümeriefabrik Schwarzkopf. Heute sind in dem Gebäude verschiedene Abteilungen der Deutschen Bundespost untergebracht.

Wer jetzt noch Lust und Energie verspürt, diese Fahrradtour auszudehnen, kann über den Tempelhofer Damm zum Flughafen Tempelhof fahren und dort auch das Luftbrückendenkmal anschauen. Der Flughafen Tempelhof sollte östlich der von Albert Speer projektierten Nord-Süd-Achse liegen und ist einer der bedeutendsten Verkehrsbauten weltweit. Architekt ist Ernst Sagebiel. Kurz zu den geschichtlichen Daten: Planung ab 1934, Baubeginn 1936, Rohbau 1939, Bauarbeiten durch Kriegsbeginn verhindert, 1962 zivile Inbetriebnahme. Die Anlage, früher auch als „Weltflughafen Tempelhof“ bezeichnet, liegt am Platz der Luftbrücke und ist dreigeteilt und erlaubt kurze Wege: das halbkreisförmige Verwaltungsgebäude, eine zentrale Abfertigungshalle, Flugsteighallen mit Hangars, die einen 1200 m langen Bauteil ergeben. Die Dächer der Flugsteighallen bestehen aus einer Stahlkonstruktion, die bei Flugschauen bis zu 90.000 Besucher aufnehmen sollte. Der Flughafen ist der größte zusammenhängende Gebäudekomplex Europas. Architektonisch fügt sich die Anlage eng an die Formensprache der nationalsozialistischen Staatsarchitektur: Reihung von Fensterachsen, Arkadenreihen, symmetrische Anordnung der Baukörper. Vom gesamten Komplex geht eine monumentale Wirkung aus. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Komplex stark beschädigt.

Die gesamten hier abgefahren Gebiete in Tempelhof gehören nach wie vor zu den größten industriellen Ballungsgebieten der Stadt. Interessant ist auch, dass es keine Spezialisierung auf bestimmte Industriezweige gegeben hat. Die Branchen umfassen u. a. die Lebensmittel-, Genusswaren-, Druck- und Elektroindustrieindustrie sowie Filmstudios. Auch deshalb ist eine Besichtigung der beschriebenen Gebäude so interessant. Daneben bieten sie aber auch noch einen lebendigen Einblick in die Geschichte des Industriebaus.

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